Die Frage nach dem Ursprung von Rassismus ist eng mit der Frage verbunden, ob es historisch etwas gibt, das sich als Protorassismus bezeichnen lässt. Es geht also darum zu eruieren, ob sich in der Geschichte der Menschheit Ausgrenzungspraktiken finden lassen, bevor «Rasse» als Begriff für die Unterscheidung von unterschiedlichen Menschengruppen verwendet wurde und die Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was heute unter den Begriff «Rassismus» gefasst wird. Grundsätzlich lassen sich zwei Positionen identifizieren: Die eine Seite befürwortet die Verwendung des Begriffes «Protorassismus» und führt dafür unterschiedliche Beispiele aus der Antike und dem Mittelalter an, um ihre These zu begründen. 1 2 Die andere Position verortet den Ursprung von Rassismus in der frühen Neuzeit und kritisiert die These des Protorassismus dahingehend, dass dabei eine Denkform der Moderne in die Antike bzw. das Mittelalter projiziert wird. Die Kritik wird damit begründet, dass Menschen in der Antike und dem Mittelalter nicht in modernen Denkmustern dachten. Deshalb bietet sich ein Vergleich von Ausgrenzungspraktiken unterschiedlicher historischer Epochen in Bezug auf Rassismus nicht an. 3 Darüber hinaus kann die Frage nach einem Ursprung zur Annahme verleiten, ein heute zu beobachtendes Phänomen sei in einer Kausalkette auf ein einziges historisches Ereignis zurückzuführen. Stattdessen ist es sinnvoller, in einem ersten Schritt nach historischen Ausgrenzungspraktiken und deren Rechtfertigung zu fragen, um in einem zweiten Schritt zu klären, welche Auswirkungen die Anwendung des Begriffes Rasse auf den Menschen hatte und wie sich dadurch die Art der Rechtfertigung über Zeit verändert hat. Ausgehend von der Überlegung, dass es sich bei Rassismus um einen Versuch handelt, Grenzen der Zugehörigkeit theoretisch zu begründen und praktisch umzusetzen, so lassen sich in der Antike und dem Mittelalter drei Menschengruppen identifizieren, deren Ausgrenzung und Abwertung sich bis in die heutige Zeit durchzieht: Frauen, Menschen mit nicht weisser Hautfarbe und Menschen jüdischen Glaubens.
Die Asymmetrie der Geschlechterordnung
Wenn es sich bei Rassismus (wie im vorausgehenden Abschnitt definiert) um einen Versuch handelt, Zugehörigkeitsgrenzen zwischen Menschen theoretisch zu begründen und praktisch herzustellen, dann ist als erstes Beispiel dafür, die Einteilung in Geschlechter und die daraus abgeleitete asymmetrische Geschlechterordnung ist im Grunde zu nennen. 4 5 6 Die Ähnlichkeit zu klassischen und modernen Formen von Rassismus endet jedoch nicht in der Grenzziehung auf Grundlage willkürlich ausgewählten (körperlichen) Merkmalen. Analog zum Rassismus werden ausgehend von körperlichen Merkmalen negative Eigenschaften abgeleitet, die die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Frauen und Männern rechtfertigen sollen. So wurde die Menstruation im antiken Judentum als etwas Unreines betrachtet, wodurch der Ausschluss von gesellschaftlichen Aktivitäten während der Menstruation und das allgemeine Berührungsverbot eines Geistlichen durch Frauen legitimiert wurde. 7 Sowohl die religiös begründete Norm als auch die daraus resultierende Praxis lässt sich bis heute in unterschiedlichen Gemeinschaften beobachten. An diesem Beispiel zeigt sich die dem Rassismus eigene wechselseitige Beziehung zwischen theoretischer Rechtfertigung und praktischer Ausgrenzung.
Abwertung und Versklavung aufgrund der Hautfarbe
Als erstes historisches Beispiel für die Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ist das indische Kastensystem zu nennen. Die in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends in Indien einwandernden Arier erschufen mit dem Kastensystem eine Gesellschaftshierarchie, die mitunter auf der Unterscheidung der Hautfarbe gründet und die Versklavung der dunkelhäutigen Bevölkerung religiös legitimierte. Obzwar die Begründung jener Ordnungsstruktur religiöser Natur war, lässt sich in ihr bereits ein Kernelement von Rassismus erkennen: die normative Strukturierung der Gesellschaft auf Grundlage rein äusserlicher menschlicher Merkmale. Die Rechtfertigung von Diskriminierung einer Menschengruppe aufgrund äusserlicher Körpermerkmale ist ein wesentlicher Grundmechanismus von Rassismus, welcher auch bei modernen Formen von Rassismus zu beobachten ist. 8
Die gleiche Begründungsstruktur lässt sich auch im frühneuzeitlichen europäischen Kolonialismus im Umgang mit der indigenen Bevölkerung der amerikanischen und afrikanischen Kontinente erkennen. Die Sklaverei in den amerikanischen Kolonien war für die Herausbildung des modernen Rassismus von entscheidender Bedeutung und hatte zur Folge, dass in den Kolonien eine vollständig neue Bevölkerungsformation entstand. Zuerst reduzierte sich die indigene Bevölkerung aufgrund von Zwangsarbeit, Massakern und Krankheiten dramatisch, wodurch jene Bevölkerungsgruppe durch versklavte junge Menschen vom afrikanischen Kontinent ersetzt wurde. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurden dadurch rund 10-12 Millionen Menschen versklavt und zwangsmigriert, wobei die Verschleppung von Millionen Ausdruck der Verachtung gegenüber Afrikaner:innen war. Auf dem amerikanischen Kontinent führte es zu einer extremen Polarisierung der Gesellschaft und Entwicklung von Strukturen, die dem indischen Kastensystem ähnelte und in welcher die Hautfarbe das entscheidende Unterscheidungskriterium darstellte. Dies zeigte sich beispielsweise daran, dass bei der Gründung der USA das Gleichheitsgebot für die indigene und afroamerikanische Bevölkerung nicht galt und Sklaverei weiterhin stillschweigend akzeptiert wurde. Mit der zunehmenden Kritik an der Sklaverei entwickelten sich erste Versuche, mittels Erkenntnisse der sich in der Entstehung befindlichen Naturforschung die Unterscheidung der Menschen in Rassen zu begründen, um auf deren Grundlage wiederum die Ungleichbehandlung unterschiedlicher Menschengruppen rechtfertigen zu können. 9
Religiöser Antijudaismus
Erste Hinweise für religiös begründeten Antijudaismus lassen sich bereits in der Bibel finden. Im zweiten Buch Moses (1-9) wird jüdischen Migrant:innen Illoyalität unterstellt und sie werden für ihren Kinderreichtum und Migrationshintergrund kritisiert. Nicht zuletzt wird die in modernen Verschwörungstheorien oft aufgeworfene Unterstellung aufgegriffen, die jüdischen Weltverschwörer:innen beabsichtigten eine Umvolkung. 10
Der Begriff «Rasse» wurde zuallererst während der spanischen Reconquista auf die jüdische Bevölkerung angewandt, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nach der Zwangsbekehrung voneinander unterscheiden zu können. Die neuen christlichen Machthaber sahen sich hierbei einer multikulturellen bzw. -religiösen Bevölkerung gegenüber, die sich zwar (freiwillig als auch zwangsweise) zum Christentum bekannt hatte, ihre alten kulturellen Bräuche jedoch weiterhin praktizierten. Somit war das Glaubensbekenntnis allein kein ausreichendes Ordnungskriterium mehr. 11
In der Folge wurde die Bevölkerung um 1492 nicht nur nach der Religionszugehörigkeit unterschieden, sondern es wurde auch daran angeknüpft, wie viele Generationen einer Familie bereits christlich waren. Zum alten christlichen Konzept der «Reinheit des Glaubens» trat zusätzlich die «Idee der Reinheit des Blutes» hinzu. Hierbei erfuhr der Rassebegriff eine Transformation, indem er als Ordnungsbegriff um eine Herkunftskomponente ergänzt wurde. D.h. die Einteilung unterschiedlicher Menschengruppen in Rassen erfolgte nicht in erster Linie aufgrund der Glaubenszugehörigkeit, sondern aufgrund der Abstammung. Diese Einordnung hatte direkte Konsequenzen für die so geschaffene Gruppierung der «conversos» (Konvertiten) deren Rechte beschnitten wurden. Menschen, die am jüdischen oder muslimischen Glauben offen festhielten, wurden derweilen vertrieben. 12 13
Mit der Verwendung des neuen Begriffes der Rasse sollte eine neue, scheinbar natürliche Kategorie der Zugehörigkeit geschaffen werden, bei welcher die Abstammung das christliche Glaubensbekenntnis als entscheidende Zugehörigkeitsmerkmal ablöste. Die Einteilung der Menschen in unterschiedliche (Abstammungs-)Gruppen stellt wiederum ein entscheidendes Element von Rassismus dar, insbesondere wenn mit jener Unterteilung zusätzlich noch eine unterschiedliche Bewertung einhergeht. Die neuen christlichen Machthaber bezweckten damit eine Neuordnung der multikulturellen Gesellschaft, die durch Zwangsbekehrung anschliessend vereinheitlicht werden sollte. Die daraus entstandenen juristischen Schriften dienten den Nürnberger Rassengesetze später als Referenzpunkt. Rassismus spielt insofern historisch betrachtet immer dann eine besonders bedeutende Rolle, wenn es um die rationale Neuordnung der Gesellschaft geht. 14 Diese Dynamik lässt sich insbesondere in Zeiten beobachten, in welchen bestimmte Menschengruppen in grosser Anzahl in ein bestimmtes Land migrieren, sei es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen. In der Schweiz lässt sich dies sehr gut anhand des Begriffes der Überfremdung veranschaulichen, welcher erstmals im Jahr 1900 in einer Broschüre des Zürcher Armensekretärs verwendet wurde. Die unter diesem Begriff geführte Einwanderungsdebatte führte dazu, dass die Schweiz ihre sehr liberalen Einwanderungsgesetze schrittweise verschärfte, was mitunter 1917 zur Gründung der Fremdenpolizei führte. 15
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 15 – 21. ↩︎
- Blume, Michael: „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“, Ostfildern, 2019, S. 82 – 85. ↩︎
- Geulen, Christian: „Geschichte des Rassismus“, München, 20214, S. 18 – 34. ↩︎
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 11. ↩︎
- Geulen, Christian: „Geschichte des Rassismus“, München, 20214, S. 35. ↩︎
- Klinger, Cornelia: “ Die Ordnung der Geschlechter und die Ambivalenz der Moderne“ in: „Das Geschlecht der Zukunft. Zwischen Frauenemanzipation und Geschlechtervielfalt“, Stuttgart, 2000. S. 29 – 63. ↩︎
- Kröni, Tanja: „Menstruierende im Judentum“, 2012, In: Hagalil, Url: https://www.hagalil.com/2012/03/reinheit/, [24.12.2024]. ↩︎
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 15. ↩︎
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 18 – 24. ↩︎
- Blume, Michael: „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“, Ostfildern, 2019, S. 82 – 83. ↩︎
- Geulen, Christian: „Der Rassismusbegriff“ in „Das Phantom »Rasse«: Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus“, Köln, 2018, S. 25. ↩︎
- Geulen, Christian: „Der Rassismusbegriff“ in „Das Phantom »Rasse«: Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus“, Köln, 2018, S. 25. ↩︎
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 17. ↩︎
- Koller, Christian: „Rassismus“, Paderborn, 2009, S. 17 – 18. ↩︎
- Landwehr, Dominik: „Die Schwarzenbach-Initiative“, In: Nationalmuseum, Url:https://blog.nationalmuseum.ch/2020/06/schwarzenbach-initiative/, [24.12.2024]. ↩︎
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